Ein gutes Geschäft wider Willen

Als erster Ort in der Schweiz erhielt Basel 1844 den Anschluss an das europäische Eisenbahnnetz. Drei Jahre später wurde die erste inländische Verbindung von Zürich nach Baden eröffnet. In den Jahren nach 1852 begann schliesslich der Schweizer Bahnbau in grossem Stil. Die folgenden Ereignisse führten dazu, dass, nebst vielen Anderen, auch die Burgergemeinde Bern und die Zünfte in Eisenbahnpapiere investierten. Ausgerechnet! Stand doch die Eisenbahn einerseits für Fortschritt und Modernisierung, andererseits für Zukunftsangst und Fremdbestimmung. Diese Ambivalenz drückt ein Artikel im Intelligenzblatt der Stadt Bern sehr schön aus: „Die Schweiz soll und will also auch Eisenbahnen bekommen, wie sie Telegraphendrähte hat; die Schweiz, mitten in die Hauptländer von Europa hineingestellt, als Kreuzungspunkt zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und England, wie könnte sie auf die Länge der Nothwendigkeit ausweichen, die befahrene Kreuzstrasse der Nachbarländer zu werden? […] Wer kann voraussehen und vorhersagen, welche ungeheuren Folgen in Nutzen und Schaden die Eisenbahnen auch für unser Vaterland haben werden?“i Wie wurde es also möglich, dass die Burgerschaft 1854 den damals riesigen Betrag von einer halben Million Franken in Eisenbahnaktien anlegte?

Zu Beginn der 1850er Jahre stellte sich dem Kanton Bern die Frage, wie er mit den von Basel heranrückenden Eisenbahnen umgehen sollte. Im damals konservativ regierten Kanton wurden die Bahnen nicht freudig willkommen geheissen; vielmehr sah man sie als notwendiges Übel, dessen Vordringen man nicht aufhalten konnte. Ein Konzessionsgesuch der Schweizerischen Centralbahn zwang 1852 Regierungs- und Grossrat dazu, Stellung zu beziehen. Der Grosse Rat erteilte ihr diese Konzession schliesslich, und die Gesellschaft verpflichtete sich im Gegenzug dazu, innerhalb von vier (!) Jahren die Linien Murgenthal – Bern und Murgenthal – solothurnische Kantonsgrenze zu bauen. Was die Zukunft der zu bauenden Linien sowohl für die Centralbahn als auch für die Investoren rosig erschienen liess, war die in der Konzession vorgesehene Bestimmung, dass innerhalb der nächsten dreissig Jahre keine andere Bahn die Erlaubnis zum Bau paralleler Linien erhalten sollte. Der Kanton sah ausdrücklich vor, kein Geld in einen staatlichen Eisenbahnbau zu investieren, sondern diesen ganz der Centralbahn zu überlassen. Kurz darauf trieben Spekulation und allzu hohe Erwartungen den Aktienkurs der Centralbahn vorerst in grosse Höhen, führten aber nach kurzer Zeit zum Absturz der Aktien und in der Folge zu einer Krise, welche die Existenz der Gesellschaft gefährdete. Diese bat deshalb 1854 den Kanton darum, sich mit vier Millionen am Bau der konzessionierten Linien zu beteiligen. Um das Werk und die damit verbundene Arbeitsbeschaffung zu retten, fand sich der Kanton schliesslich bereit, die vier Millionen zu investieren. Er wollte die Summe jedoch nicht allein aufbringen, weshalb er die Gemeinden, vor allem jene entlang der vorgesehenen Strecke, aufforderte, einen Teil der Aktien zu übernehmen. Mit diesem Ansuchen trat er auch an die Burgergemeinde und die Zünfte heran.

Zuerst befasste sich die Finanzkommission der Burgergemeinde mit der Angelegenheit. Sie vertrat recht fortschrittliche Ansichten, bezeichnete sie doch den Bau der neuen Linie als „gemeinnütziges Unternehmen“ und ein eventuelles Scheitern als „drohende Gefahr“.ii Obwohl die Finanzkommission durchaus die Risiken eines finanziellen Engagements sah, empfahl sie eine Beteiligung der Burgergemeinde. Die vier Millionen, mit denen sich Kanton und Gemeinden beteiligen sollten, reichten nämlich nicht aus, um die vorgesehenen Linien zu bauen. Es war also nicht völlig sicher, dass das Werk wirklich fristgerecht fertig werden würde. Auf der andern Seite ging die Finanzkommission davon aus, dass die Bahn mit hohen Passagierzahlen rechnen könne, und dass der Betrieb deshalb rentieren sollte. Zudem hatte die Einwohnergemeinde schon beschlossen, sich zu beteiligen, was die Burgergemeinde unter Zugzwang setzte. Mittlerweile war der Bevölkerung nämlich klargeworden, dass die Eisenbahn nicht nur Gefahren brachte, sondern auch die Chance für wirtschaftliche Entwicklung. Viele Orte wetteiferten nun darum, möglichst bald ans entstehende Netz angeschlossen zu werden. So war auch die Stadt Bern entschieden für den Bahnbau, so dass ein Abseitsstehen der Burger schlecht angekommen wäre. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Burgergemeinde in dieser Zeit stark angefochten wurde. Sie musste deshalb ihre Existenz durch Aktivitäten zum Wohl der Allgemeinheit legitimieren, was der Finanzkommission sehr wohl bewusst war.iii Die Stadt beteiligte sich mit 500’000 Franken am Aktienkauf, und auf Antrag der Finanzkommission bewilligte der Burgerrat seinerseits die Summe von 200’000 Franken. Weitere 300’000 Franken kamen von den Zünften, so dass die Stadt Bern allein eine Million beisteuerte.iv
Auf Zimmerleuten war das Geschäft umstritten. Dabei ging es vor allem um die Höhe der Beteiligung. Auf Antrag der Vorgesetzten bewilligte das Grosse Bott schliesslich den Kauf von 30 Aktien zu 500 Franken, insgesamt also den Betrag von 15’000 Franken. Das war im Vergleich zur Gesamtsumme, welche die Zünfte beisteuerten, sehr wenig. Leider lässt uns das Protokoll völlig im Ungewissen über die Motive der Diskussionsteilnehmer, indem nur vermerkt wird, das Grosse Bott habe den Antrag „nach einer gründlichen Beratung“ angenommen.v Allerdings musste Zimmerleuten die Aktien nicht sofort kaufen. Gemäss Vertrag wurde eine erste Tranche fällig, nachdem die Expropriationen entlang der Strecke Murgenthal – Bern durchgeführt waren; die übrigen Aktien musste die Gesellschaft bezahlen, nachdem die Fundamente der Eisenbahnbrücke in Bern erstellt waren. Zimmerleuten machte jedoch von der nachträglich eröffneten Möglichkeit Gebrauch, alle Aktien auf einmal zu erwerben und vorzeitig zu bezahlen. Die Mittel dazu waren vorhanden.vi Das Vorgesetztenbott hatte eine gute Nase. Am 11. April 1856 wurde die Bezahlung der Aktien fällig; sie standen schon bei 525 bis 530 Franken. Als der Kurs im Mai auf 600 Franken stieg, verkaufte Zimmerleuten 20 Stück, behielt die restlichen zehn aber noch. Die Gesellschaft erhielt für die verbleibenden Aktien eine jährliche Dividende von 5%. 1872 standen sie wiederum sehr hoch, und die Vorgesetzten befürchteten, sie könnten im Kurs nur noch sinken. Deshalb verkaufte man die Papiere nun.vii Ob bewusst oder nicht, der Zeitpunkt für den Verkauf war perfekt gewählt. Zimmerleuten machte mit den restlichen 10 Aktien einen Gewinn von 1’491 Franken.viii Nach dem Börsenkrach von Wien ein Jahr später geriet die Centralbahn, wie viele andere Bahnunternehmen, ins Trudeln und konnte Ende der 1870er-Jahre in zwei aufeinanderfolgenden Jahren nicht einmal mehr eine Dividende zahlen.ix

Betrachtet man den Kauf von Eisenbahnpapieren im Kontext der Anlagepolitik von Zimmerleuten, wird schnell klar, dass es sich hier um ein eher atypisches Engagement handelte. Und doch nahm es in den nächsten Jahrzehnten zeitweise grössere Ausmasse an. Interessant ist, dass Zimmerleuten sein Geld sehr einseitig anlegte: Im 19. Jahrhundert bestand praktisch das ganze Vermögen der Gesellschaft aus Wertschriften; Immobilien spielten keine Rolle. Innerhalb der Wertschriften gab es drei grössere Bereiche: Darlehen an Privatpersonen, Obligationen öffentlicher Körperschaften (Stadt, Kanton, Eidgenossenschaft) und Privatunternehmen. Auch bei den Privatunternehmen war die Verteilung sehr einseitig: Zimmerleuten kaufte vor allem Kassenscheine von Banken, vorzugsweise von solchen aus dem Kanton Bern (Kantonalbank, Hypothekarkasse, Bodenkreditanstalt, Deposito-Cassa). Zudem beteiligte sich die Gesellschaft an den zwei Berner Baugesellschaften, von denen sich die zweite als Flop erwies, bei dem Geld verloren ging. Diese Baugesellschaften überbauten das Gebiet entlang der Nordseite der Bundesgasse, und es war das erste Mal, dass Zimmerleuten in grösserem Umfang Geld in ein Immobilienprojekt steckte. Die absoluten Exoten waren aber einige Aktien der Brauerei Gurten, und auch die Eisenbahnpapiere passen nicht so ganz ins Bild.x

Anscheinend kamen die Vorgesetzten durch den vorteilhaften Aktienhandel auf den Geschmack. Schon im November 1855 beschlossen sie die Beteiligung an einer Anleihe der Centralbahn in der Höhe von 5’000 Franken.xi Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen immer neue Käufe und Verkäufe von Centralbahn-Obligationen dazu; in Einzelfällen auch solche der Nordostbahn und der Bernischen Jurabahn, der späteren BLS. Offenbar hielt das Vorgesetztenbott diese Eisenbahnpapiere für sicher; es entschloss sich sogar, auch für das Armengut solche Anlagen zu tätigen.xii Mit 4 bis 5 Prozent warfen sie eine aus heutiger Sicht gute Rendite ab. Auf dem Höhepunkt des Engagements im Jahr 1884 machten Eisenbahnpapiere im Stubengut 6 Prozent des in Wertschriften angelegten Kapitals aus; im Armengut waren es sogar 18 Prozent!xiii

Weshalb also dieses unerwartet hohe Engagement in Eisenbahnpapieren? Eine mögliche Erklärung dürfte in den guten Anfangserfahrungen mit den Aktien liegen; auch die Rendite war akzeptabel und, im Vergleich etwa zu Investitionen in andere Produkte und Unternehmen, weniger schwankungsanfällig. Zudem waren die Bahnen sehr schnell so wichtig geworden, dass sich die Wirtschaft nicht mehr leisten konnte, auf sie zu verzichten. Zu wiederholten Malen mussten deshalb der Bund oder die Kantone Bahnen vor dem Konkurs retten. Zimmerleuten dürfte also auf eine Art „too big to fail“ Effekt gesetzt haben.

1895 kaufte Zimmerleuten die letzten Eisenbahnpapiere und beendete damit eine Tradition, die es 1854 mit wenig Begeisterung begonnen hatte. Von nun an setzte die Gesellschaft vermehrt auf Investitionen in Immobilien, was die Anlagepolitik das ganze 20. Jahrhundert hindurch prägen sollte. Mit dem Verkauf der letzten Eisenbahn-Obligationenxiv im Jahr 1947 schloss Zimmerleuten ein ausgesprochen erfolgreiches Kapitel seiner Geschichte ab. Die Gesellschaft darf damit für sich in Anspruch nehmen, den Weg Berns in die Moderne mit bereitet zu haben.

Literatur:
Hofer, Hans: Bernische Eisenbahnpolitik während 125 Jahren. Berner Jahrbuch 1973
Junker, Beat: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band II: Die Entstehung des demokratischen Volksstaates 1831-1880. Bern 1990
Pfister, Christian: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band IV: Im Strom der Modernisierung. Bern 1995
Schwabe, Hansrudolf; Amstein, Alex; Wyrsch, Karl; Willen, Peter: 3 x 50 Jahre. Schweizer Eisenbahnen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Basel 1997

Philipp Stämpfli, lic. phil. hist., Burgerarchivar

Intelligenzblatt vom 7. 3. 1853, S. 488 f.
BBB: VA BK 1313: Manual der Finanzkommission, S. 371-372
BBB: VA BK 1313: Manual der Finanzkommission, S. 378-379
BBB: VA BK: Bericht des Burgerrates der Stadt Bern über die burgerliche Gemeindeverwaltung von 1853-1862, S. 10
BBB: ZA Zimmerleuten 24: Protokoll der Gesellschaft, S. 51
BBB: ZA Zimmerleuten 24: Protokoll der Gesellschaft, S. 121
BBB: ZA Zimmerleuten 26: Protokoll der Gesellschaft, S. 382
BBB: ZA Zimmerleuten 602: Stubengutsrechnung 1872
Schwabe (1997), S. 110
Angaben aus den Stubenguts- und Armengutsrechnungen
BBB: ZA Zimmerleuten 24: Protokoll der Gesellschaft, S. 127
BBB: Beispiel: ZA Zimmerleuten 28: Protokoll der Gesellschaft, S. 301
BBB: ZA Zimmerleuten 195 / 614: Armengutsrechnung 1884; Stubengutsrechnung 1884
BBB: ZA Zimmerleuten 258 /677: Armengutsrechnung 1947; Stubengutsrechnung 1947